Der Mittelwert: Lösung mit Tücken
In der Praxis greifen Unternehmen behelfsweise zu anderen Werten, etwa dem durchschnittlichen Bestellzyklus. Durchschnittswerte sind jedoch nicht leicht interpretierbar, wie die Betrachtung eines gewöhnlichen Spielwürfels zeigt. Angesichts der durchschnittliche Augenzahl von (1+2+3+4+5+6):6 = 3,5 müsste ein durchschnittlicher Wurf eine Augenzahl von 3,5 ergeben. Gleichzeitig wird niemand jemals eine 3,5 würfeln. Ähnlich sieht die Sache beim mittleren Bestellzyklus aus. Wenn der durchschnittliche Kunde eines Herrenausstatters alle sechs Monate fünf Hemden kauft, dann wird es neben Menschen, die häufiger kaufen, auch viele Männer geben, die nur einmal pro Jahr ihre zehn Hemden ordern. Bei keinem dieser Männer wäre die Vermutung gerechtfertigt, er sei abgewandert, nur weil er seit 8 Monaten nicht im Geschäft war und damit gegenüber dem Durchschnitt zwei Monate überfällig ist.
Abwanderungsscores benötigen eine andere Herangehensweise
Am Beispiel unseres Herrenausstatters könnte die Frage lauten, nach welcher Maßnahme die Kunden statistisch signifikant häufiger eine Krawatte zum Hemd gekauft haben (Cross Selling), oder seit welcher Kampagne bei welchen Kunden ein Hemd aus der höherwertigen Kollektion im Kleiderschrank hängt (Upselling).
Unabhängig davon, ob man Abwanderungs- oder Kündigerwahrscheinlichkeiten prognostiziert, es bleibt Mittel zum Zweck. Für den Kampagnenmanager und Vertriebler ist am Ende die Frage entscheidend, ob er etwas gegen den drohenden Kundenverlust tun kann. Bei der Abwanderungsprävention wird dieser Punkt nur besonders deutlich. Das heißt, es gilt für jeden Kunden zu prüfen, ob eine vertriebliche Bindungsmaßnahme notwendig und sinnvoll ist.
Diese Analyse geht weit über einfache A-B-Tests hinaus. Während die A-B-Tests beispielsweise ermitteln, ob der Netto-Effekt einer Kampagne positiv ist, können deutlich komplexere statistische Verfahren etwa über neuronale Netze ebenfalls ermitteln, unter welchen Bedingungen eine Kampagne wirkt – und unter welchen eben nicht.
Simulieren Sie die Zukunft
An dieser Stelle muss sich die Abwanderungsprävention weitergehen als die Kündigerprävention, wie sie bei Versicherungen, Krankenkassen oder Energieversorgern erfolgreich eingesetzt wird. Die Churn-Score-Modelle funktionieren dort deshalb so gut, weil jede Auswirkung anhand genau einer Variable gemessen werden kann. Abwanderung kann sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen zeigen. So kann ein Kunde seine Kauffrequenz verringern oder die jeweiligen Bestellmengen reduzieren. Eine Simulation muss also die Auswirkung jeder Maßnahme sowohl auf die Bestellhäufigkeit als auch die Bestellmenge betrachten.
Stellen wir uns jetzt vor, wir würden unserem Hemdenkäufer jedes siebente Hemd zum halben Preis anbieten. Wenn der Kunden dieses Angebot annimmt, erscheint es für diese Maßnahme so, als hätte sie zu mehr Umsatz mit dem Kunden geführt. Wenn der Kunde jedoch die folgende Bestellung reduziert und nur 5 statt der üblichen 6 Hemden kauft, so hat die Maßnahme de facto zu einem Verlust an Umsatz geführt.
Unter dieser Prämisse muss jede datengestützte Abwanderungsprävention erfolgen. Denn Modelle, die sich an nur einer Variable orientieren, sind in der Regel schneller entwickelt, führen in der Praxis aber häufig zu falschen Ergebnissen bei der Erfolgsmessung von Kampagnen.