Auch wenn zwei Drittel der jungen Unternehmen in Deutschland mit höheren Umsätzen in der nahen Zukunft rechnet, beklagt eine steigende Gründerzahl laut Deutschem Startup Monitor 2019 eine allzu konservative Haltung der hiesigen Geldgeber. Die jetzt erschienene Neuauflage der jährlichen Untersuchung legt den Finger in die Wunde. Statt sich auf institutionelle Sponsoren verlassen zu können, müssen rund 80 Prozent der deutschen Gründer auf eigenes Geld zurückgreifen, oder die finanzielle Hilfe von Bekannten und Verwandten in Anspruch nehmen. Nur 15 Prozent nutzen Venture Capital, obwohl 40 Prozent diese Finanzierungsform bevorzugen würden, heißt es in dem Papier.
Europa in global-digitaler Sandwichposition
Wehmütig, bewundernd und auch ein bisschen neidisch werden daher in diesen Tagen wohl etliche junge europäische Firmen in die digitale Ferne blicken. An die US-amerikanische Dominanz des Großraums San Francisco mit seinem Silicon Valley durften sich Politiker und Wirtschaftslenker hierzulande ja bereits seit mehr als vier Jahrzehnte hinweg langsam gewöhnen. Unter dem Schutz weitgehend deregulierter und massiv geförderter digitaler Ökosysteme haben sich allerdings auch im fernen Osten starke Technik-Cluster entwickelt. Einen vergleichbaren Abbau regulatorischer und bürokratischer Hürden wünschen sich auch zwei Drittel der Teilnehmer des Deutschen Startup Monitors.
Stattdessen müssen sie sich gemeinsam mit ihren europäischen Kollegen zumindest kurzfristig mit einer digitalen Sandwichposition zwischen Asien und Amerika arrangieren. Diese Interpretation des Marktes legt auch unser Customer Management Technology Report nahe. Zum Hintergrund: Sämtliche von uns untersuchten Firmen stammen aus den Branchen Sales & Service, Marketing und E-Commerce. Die branchenübergreifend am häufigsten genannten Spezialisierungen sind Künstliche Intelligenz (AI), Analytics, Dashboard, Automation und Customer Experience. Sie geben den übergeordneten Rahmen der Kundenmanagement-Technologie.
China – Ein Outperformer überholt von rechts
Unsere Betrachtung von Kundenmanagement-relevanten Technologien offenbart zunächst eine nach wie vor prosperierende, innovative Start-up-Szene Nordamerikas. Parallel dazu hat in den letzten fünf Jahren auch die chinesische Gründerlandschaft eine atemberaubende Dynamik gezeigt. Setzt sich die rasante Entwicklung fort, stellen chinesische Gründungen bald schon europäische und in absehbarer Zeit auch die US-amerikanischen Firmen in den Schatten. Schon jetzt können chinesische Unternehmen in jeder einzelnen Funding-Runde höhere Summen akquirieren, als ihre europäischen und amerikanischen Kollegen. Auch das Gesamtvolumen des asiatischen Risikokapitals wächst und kann sich inzwischen mit dem Volumen der küstennahen US-Cluster und den europäischen Start-up-Hochburgen messen. Immerhin hält Europa mit Blick auf die Kapitalmenge je Funding mit den USA Schritt; gemessen an der Start-up-Anzahl nimmt es zudem einen guten zweiten Rang ein, was für die Zukunft Anlass zur Hoffnung gibt.
Marketing made in China
Mit Blick auf ihre Geschäftsfelder dominieren in China Marketing-affine Technologie-Start-ups. Sie machen 87 Prozent der fernöstlichen Gründungen aus, aber nur rund die Hälfte der globalen Samples. Abgesehen von eigenen Sozialen Netzwerken und Suchmaschinen haben nicht zuletzt die laxen Datenschutzbestimmungen in China erstaunliche digitale Marketingmodelle begünstigt, die kaum auf den Westen übertragbar sind. Dennoch sollten wir davon ausgehen, dass in China entwickelte Technologie durchaus auch Relevanz für den europäischen Markt haben kann, und mehr noch: Ich persönlich sehe hier ganz erhebliche Potenziale für europäische Player schlummern.
The Winner takes it all - der chinesische Online-to-offline-Markt (O2O)
Immense Funding-Summen fließen derzeit in den chinesischen online-to-offline-Markt (O2O). Den Verdrängungswettbewerb zwischen den beiden Platzhirschen Koubei (Alibaba) und Meituan (Tencent) lassen sich die Mutterkonzerne jeweils mehrere Milliarden Dollar kosten. Dass sich hier zwei Mega-Konzerne gegenseitig zu Höchstleistungen anspornen, ist kein Wunder. Das Marktforschungsunternehmen Analysys bezifferte das Volumen des O2O-Marktes bereits für vergangenes Jahr auf mehr als 200 Milliarden Dollar. Nicht zuletzt, weil ernstzunehmende europäische Pendants auf dem O2O-Markt fehlen, interpretiere ich den Kampf der beiden chinesischen Giganten als einen lauten Appell für ein einheitliches und koordiniertes europäisches Vorgehen.
Wo bleibt das digital vereinte Europa?
Tatsächlich hat erst der eskalierende technologische Wettbewerb zwischen den USA und China um die weltweite digitale Vorherrschaft Politiker und Unternehmen hierzulande wachgerüttelt. Dem vereinten Europa gestehen Kenner der Szene derzeit höchstens Außenseiterchancen zu. Die Venturekapital-getriebenen Innovationsschübe scheinen derzeit zu mächtig, zu weit der erzielte technische Fortschritt und zu etabliert die Macher-Mentalität von Politik und Wirtschaft im fernen Osten und jenseits des Atlantiks.
Derlei Erkenntnisse sind nicht neu; unser Customer Management Technology Report bestätigt an dieser Stelle lediglich auch für unsere Branche die vielfach gehörte Wahrheit. Die immer wieder vernachlässigte Frage muss doch aber jetzt lauten, was die richtigen Ableitungen für uns europäische Player sind. Meine persönliche Sicht auf die Dinge ist: Wenn wir schon das Gefühl haben, ins Abseits zu geraten, dann lasst uns doch bitte jetzt gemeinsam Gas geben. Auch die europäische Sprachvielfalt, oft unter Verweis auf einen geringeren ROI im hiesigen Wirtschaftsraum verliert angesichts immer leistungsstärkerer KI jeden Tag weiter an Überzeugungskraft und Bedeutung.
Geld, Know-how und Kontakte
Was wir jetzt dringend brauchen, sind erfolgreiche Firmenlenker, die sich als aktive, hilfsbereite Business Angels engagieren und die Geld und Wissen in gute Ideen fließen lassen. Wir benötigen mehr Inkubatoren in dem private und öffentliche Gelder, erfahrene Wirtschaftspraktiker, Hochschul-Know-how und lokale Gründungsideen aufeinandertreffen. Von derartigen Strukturen, Plattformen und Anlaufstellen gibt es in Kalifornien deutlich mehr als in Deutschland, weshalb ambitionierte Gründer dort wesentlich leichter ihren Kapitalbedarf decken können.
Derzeit schaue ich gerne nach Berlin. Mit der Bundeshauptstadt hat sich auf dem Kontinent eine konkurrenzfähige Metropole entwickelt, deren vitales gründungsfreundliches Ökosystem Start-ups, Kapitalgeber und Business Angels aus der ganzen Welt anlockt. Das KI-Start-up AtomLeap, unser Datenpartner für den Customer Management Technology Report, ist ebenfalls in Berlin zuhause. Die Stadt ist – der Vergleich sei gestattet – ein beginnendes deutsches Silicon Valley, ohne eine direkte Kopie des Vorbilds zu sein. Als echtes Original genießt sie nicht nur den Ruf, bezahlbar und hip zu sein. Berlin bringt auch das Potenzial mit, dereinst London als europäischen Start-up-Hot-spot beerben zu können.